Theorie der Elektronen und Positronen
Paul A. M. Dirac
Vorlesung anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Physik am 12. Dezember 1933
Die Experimentalphysiker haben festgestellt, dass die Materie aus kleinen Teilchen verschiedener Art besteht, wobei die Teilchen jeder Art genau gleich sind. Einige dieser Arten haben sich definitiv als zusammengesetzt erwiesen, d. h. zusammengesetzt aus anderen Teilchen einfacherer Art. Aber es gibt auch andere Arten, die sich nicht als zusammengesetzt erwiesen haben und von denen man erwartet, dass sie sich nie als zusammengesetzt herausstellen werden, so dass man sie als elementar und grundlegend betrachtet.
Auf den ersten Blick möchte man aus allgemeinen philosophischen Gründen so wenig Arten von Elementarteilchen wie möglich haben, sagen wir nur eine Art, oder höchstens zwei, und alle Materie aus diesen Elementararten aufgebaut sehen. Aus den experimentellen Ergebnissen geht aber hervor, dass es mehr als dies geben muss. Tatsächlich hat die Anzahl der Arten von Elementarteilchen in den letzten Jahren eine ziemlich alarmierende Tendenz zur Zunahme gezeigt.
Die Situation ist aber vielleicht gar nicht so schlimm, denn bei näherer Untersuchung scheint es, dass die Unterscheidung zwischen Elementar- und Verbundteilchen nicht streng genug getroffen werden kann. Um eine Interpretation einiger moderner experimenteller Ergebnisse zu erhalten, muss man davon ausgehen, dass Teilchen erzeugt und vernichtet werden können. Wenn also beobachtet wird, dass ein Teilchen aus einem anderen Teilchen hervorgeht, kann man nicht mehr sicher sein, dass das letztere zusammengesetzt ist. Ersteres könnte möglicherweise erzeugt worden sein. Die Unterscheidung zwischen Elementarteilchen und Verbundteilchen wird nun zu einer Frage der Zweckmäßigkeit. Schon allein aus diesem Grund ist man gezwungen, die attraktive philosophische Idee aufzugeben, alle Materie sei aus einer oder vielleicht zwei Arten von Bausteinen zusammengesetzt.
Ich möchte hier die einfacheren Arten von Teilchen diskutieren und betrachten, was sich aus rein theoretischen Argumenten über sie ableiten lässt. Die einfacheren Arten von Teilchen sind:
- die Photonen oder Lichtquanten, aus denen sich das Licht zusammensetzt;
- die Elektronen und die kürzlich entdeckten Positronen (die eine Art Spiegelbild der Elektronen zu sein scheinen und sich von diesen nur durch das Vorzeichen ihrer elektrischen Ladung unterscheiden);
- die schwereren Teilchen – Protonen und Neutronen.
Von diesen werde ich fast ausschließlich auf die Elektronen und Positronen eingehen – nicht weil sie die interessantesten sind, sondern weil in ihrem Fall die Theorie weiterentwickelt wurde. Tatsächlich gibt es kaum etwas, das sich theoretisch über die Eigenschaften der anderen ableiten lässt. Die Photonen sind einerseits so einfach, dass sie leicht in jedes theoretische Schema eingepasst werden können, und die Theorie schränkt daher ihre Eigenschaften nicht ein. Die Protonen und Neutronen hingegen scheinen zu kompliziert zu sein, und es wurde noch keine zuverlässige Grundlage für eine Theorie über sie gefunden.
Die Frage, die wir uns zunächst einmal stellen müssen, ist, wie die Theorie überhaupt Informationen über die Eigenschaften von Elementarteilchen liefern kann. Gegenwärtig gibt es eine allgemeine Quantenmechanik, mit der die Bewegung von Teilchen aller Art beschrieben werden kann, unabhängig von ihren Eigenschaften. Die allgemeine Quantenmechanik ist jedoch nur dann gültig, wenn die Teilchen kleine Geschwindigkeiten aufweisen, und versagt bei Geschwindigkeiten, die mit der Lichtgeschwindigkeit vergleichbar sind, wenn Relativitätseffekte auftreten. Es gibt keine relativistische Quantenmechanik (d. h. eine, die für große Geschwindigkeiten gültig ist), die auf Teilchen mit beliebigen Eigenschaften angewendet werden kann. Wenn man also die Quantenmechanik relativistischen Anforderungen unterwirft, schränkt man die Eigenschaften des Teilchens ein. Auf diese Weise kann man aus rein theoretischen Überlegungen, die auf allgemeinen physikalischen Prinzipien beruhen, Informationen über die Teilchen ableiten.
Diese Vorgehensweise ist bei Elektronen und Positronen erfolgreich. Es besteht die Hoffnung, dass in Zukunft ein solches Verfahren auch für die anderen Teilchen gefunden wird. Ich möchte hier die Methode für Elektronen und Positronen skizzieren und zeigen, wie man die Spineigenschaften des Elektrons ableiten kann und wie man sodann auf die Existenz von Positronen mit ähnlichen Spineigenschaften und der Möglichkeit schließen kann, bei Kollisionen mit Elektronen vernichtet zu werden.
Wir beginnen mit der Gleichung, die die kinetische Energie [math]W[/math] und den Impuls [math]p_r,(r = 1, \, 2, \, 3)[/math] eines Teilchens in der relativistischen klassischen Mechanik verbindet
[math]\large\frac{W^2}{c^2} - p^2_r - m^2c^2 = 0[/math] | [math](1)[/math] |
Daraus können wir eine Wellengleichung der Quantenmechanik erhalten, indem wir die linke Seite auf die Wellenfunktion [math]\psi[/math] anwenden und [math]W[/math] und [math]p_r[/math] als die Operatoren [math]ih \partial / \partial t[/math] und [math]- ih \partial / \partial x_r[/math] verstehen. Mit diesem Verständnis lautet die Wellengleichung
[math]\left[ \large\frac{W^2}{c^2} - p^2_r - m^2c^2 \right] \psi = 0[/math] | [math](2)[/math] |
Nun ist es eine allgemeine Anforderung der Quantenmechanik, dass ihre Wellengleichungen im Operator [math]W[/math] oder [math]\partial / \partial t[/math] linear sein müssen, also wird diese Gleichung nicht ausreichen. Wir müssen sie durch eine Gleichung ersetzen, die in [math]W[/math] linear ist, und damit diese Gleichung eine relativistische Invarianz haben kann, muss sie auch in den [math]p[/math] linear sein.
Wir sehen uns also veranlasst, eine Gleichung vom Typ
[math]\left[ \large\frac{W}{c} - \alpha_r p_r - \alpha_0 mc \right] \psi = 0[/math] | [math](3)[/math] |
zu betrachten. Dabei handelt es sich um vier neue Variablen [math]\alpha_r[/math] und [math]\alpha_0[/math], bei denen es sich um Operatoren handelt, die auf [math]\psi[/math] angewandt werden können. Wir gehen davon aus, dass sie die folgenden Bedingungen erfüllen:
[math]\alpha ^2 _\mu = I[/math] | [math]\alpha_\mu \alpha_v + \alpha_v \alpha_\mu = 0[/math] |
für
[math]\mu \neq v \;\; und \;\; \mu , v = 0, \, 1, \, 2, \, 3[/math] |
und auch die [math]\alpha[/math] pendeln mit den [math]p[/math] und [math]W[/math]. Diese besonderen Eigenschaften für die [math]\alpha[/math] machen Gleichung (3) in gewisser Weise äquivalent zu Gleichung (2), denn wenn wir dann (3) auf der linken Seite mit [math]W/c + \alpha_r p_r + \alpha_0 mc[/math] multiplizieren, erhalten wir genau (2).
Die neuen Variablen [math]\alpha[/math], die wir einführen müssen, um eine relativistische Wellengleichung linear in [math]W[/math] zu erhalten, führen zum Spin des Elektrons. Aus den allgemeinen Prinzipien der Quantenmechanik kann man leicht ableiten, dass diese Variablen [math]\alpha[/math] dem Elektron einen Spin-Drehimpuls von einem halben Quant und ein magnetisches Moment eines Bohrschen Magnetons in umgekehrter Richtung zum Drehimpuls geben. Diese Ergebnisse stimmen mit dem Experiment überein. Sie wurden in der Tat zuerst aus den experimentellen Beweisen, die durch die Spektroskopie geliefert wurden, gewonnen und anschließend durch die Theorie bestätigt.
Die Variablen [math]\alpha[/math] führen auch zu einigen eher unerwarteten Phänomenen bezüglich der Bewegung des Elektrons. Diese sind von Schrödinger vollständig ausgearbeitet worden. Es zeigt sich, dass ein Elektron, das sich langsam zu bewegen scheint, in Wirklichkeit eine sehr hochfrequente Schwingungsbewegung mit kleiner Amplitude haben muss, die der uns erscheinenden regulären Bewegung überlagert ist. Infolge dieser Schwingungsbewegung entspricht die Geschwindigkeit des Elektrons zu jedem Zeitpunkt der Lichtgeschwindigkeit. Dies ist eine Vorhersage, die sich nicht direkt experimentell überprüfen lässt, da die Frequenz der Schwingungsbewegung so hoch und ihre Amplitude so klein ist. Aber man muss an diese Konsequenz der Theorie glauben, da andere Konsequenzen der Theorie, die untrennbar mit dieser verbunden sind, wie das Gesetz der Lichtstreuung an einem Elektron, experimentell bestätigt werden.
Es gibt noch ein weiteres Merkmal dieser Gleichungen, das ich jetzt erörtern möchte – ein Merkmal, das zur Vorhersage des Positrons führte. Betrachtet man die Gleichung (1), so sieht man, dass sie es erlaubt, dass die kinetische Energie [math]W[/math] entweder eine positive Größe größer als [math]mc^2[/math] oder eine negative Größe kleiner als [math]-mc^2[/math] ist. Dieses Ergebnis bleibt erhalten, wenn man zur Quantengleichung (2) oder (3) übergeht. Diese Quantengleichungen sind so beschaffen, dass sie, wenn sie nach dem allgemeinen Schema der Quantendynamik interpretiert werden, als mögliche Ergebnisse einer Messung von [math]W[/math] entweder etwas Größeres als [math] mc^2[/math] oder etwas Kleineres als [math]-mc^2[/math] zulassen.
Nun ist in der Praxis die kinetische Energie eines Teilchens immer positiv. Wir sehen also, dass unsere Gleichungen zwei Bewegungsarten für ein Elektron zulassen, von denen nur eine dem entspricht, was wir kennen. Die andere entspricht Elektronen mit einer sehr eigenartigen Bewegung: Je schneller sie sich bewegen, desto weniger Energie haben sie, und man muss ihnen Energie zuführen, um sie zur Ruhe zu bringen.
Man wäre also geneigt, als eine neue Annahme der Theorie einzuführen, dass in der Praxis nur eine der beiden Bewegungsarten vorkommt. Dies führt jedoch zu einer Schwierigkeit, da wir aus der Theorie erkennen, dass wir mit der Störung des Elektrons einen Übergang von einem Bewegungszustand mit positiver Energie in einen solchen mit negativer Energie verursachen können. Damit würden selbst bei Annahme, dass alle Elektronen der Welt in Zuständen mit positiver Energie gestartet werden, sich einige von ihnen nach einiger Zeit in Zuständen mit negativer Energie befinden. Indem sie also Zustände negativer Energie zulässt, ergibt die Theorie etwas, das scheinbar experimentell nicht mit etwas Bekanntem übereinstimmt, das wir aber nicht einfach durch eine neue Annahme zurückweisen können. Wir müssen den Sinn dieser Zustände finden.
Eine Untersuchung des Verhaltens dieser Zustände in einem elektromagnetischen Feld zeigt, dass sie der Bewegung eines Elektrons mit einer positiven Ladung anstelle der üblichen negativen entsprechen – was die Experimentatoren jetzt als Positron bezeichnen. Man könnte daher annehmen, dass Elektronen in Zuständen mit negativer Energie nur Positronen sind, was jedoch nicht der Fall ist, da die beobachteten Positronen mit Sicherheit keine negativen Energien haben. Wir können jedoch eine Verbindung zwischen Elektronen in Zuständen negativer Energie und Positronen herstellen, und zwar auf eine eher indirekte Weise.
Wir machen uns das Ausschlussprinzip von Pauli zunutze, nach dem es in jedem Bewegungszustand nur ein Elektron geben kann. Wir gehen nun davon aus, dass in der Welt, wie wir sie kennen, fast alle Zustände negativer Energie für die Elektronen beansprucht sind – mit nur einem Elektron in jedem Zustand, und dass eine gleichmäßige Füllung aller Zustände negativer Energie für uns überhaupt nicht beobachtbar ist. Außerdem ist jeder unbesetzte Zustand negativer Energie, der eine Abweichung von der Gleichförmigkeit darstellt, beobachtbar und ist einfach ein Positron.
Ein unbesetzter Zustand mit negativer Energie oder ein Loch, wie wir es der Kürze halber nennen können, wird eine positive Energie haben, da es sich um einen Ort handelt, an dem es an negativer Energie mangelt. Ein Loch ist in der Tat genau wie ein gewöhnliches Teilchen, und seine Identifikation mit dem Positron scheint der vernünftigste Weg zu sein, die Schwierigkeit des Auftretens negativer Energien in unseren Gleichungen zu überwinden. Aus dieser Sicht ist das Positron nur ein Spiegelbild des Elektrons mit genau derselben Masse und entgegengesetzter Ladung. Dies wurde experimentell bereits grob bestätigt. Auch das Positron sollte ähnliche Spineigenschaften wie das Elektron haben, dies wurde jedoch noch nicht experimentell bestätigt.
Von unserer theoretischen Darstellung aus sollten wir erwarten, dass ein gewöhnliches Elektron mit positiver Energie in ein Loch fallen und dieses Loch auffüllen kann, wobei die Energie in Form von elektromagnetischer Strahlung freigesetzt wird. Dies würde einen Prozess bedeuten, bei dem sich ein Elektron und ein Positron gegenseitig auslöschen. Der umgekehrte Prozess, nämlich die Erzeugung eines Elektrons und eines Positrons aus elektromagnetischer Strahlung, sollte ebenfalls stattfinden können. Solche Prozesse scheinen experimentell festgestellt worden zu sein und werden gegenwärtig von Experimentatoren näher untersucht.
Die Theorie der Elektronen und Positronen, die ich soeben skizziert habe, ist eine in sich schlüssige Theorie, die mit den bisher bekannten experimentellen Fakten zusammenpasst. Man möchte eine ebenso zufriedenstellende Theorie für Protonen haben. Man könnte vielleicht denken, dass die gleiche Theorie auch auf Protonen angewendet werden könnte. Dies würde die Möglichkeit voraussetzen, dass es negativ geladene Protonen gibt, die ein Spiegelbild der üblichen positiv geladenen Protonen bilden. Es gibt jedoch einige neuere experimentelle Beweise, die Stern über das magnetische Spinmoment des Protons erhalten hat und die dieser Theorie für das Proton widersprechen. Da das Proton so viel schwerer ist als das Elektron, ist es sehr wahrscheinlich, dass es eine kompliziertere Theorie benötigt, obwohl man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen kann, worin diese Theorie besteht.
Auf jeden Fall halte ich es für wahrscheinlich, dass negative Protonen existieren können, da, soweit die Theorie noch nicht definitiv ist, eine vollständige und perfekte Symmetrie zwischen positiver und negativer elektrischer Ladung besteht, und wenn diese Symmetrie wirklich grundlegender Natur ist, muss es möglich sein, die Ladung bei jeder Art von Teilchen umzukehren. Die negativen Protonen wären natürlich experimentell viel schwieriger zu erzeugen, da entsprechend der größeren Masse eine viel größere Energie erforderlich wäre.
Wenn wir die Auffassung einer vollständigen Symmetrie zwischen positiver und negativer elektrischer Ladung hinsichtlich der grundlegenden Naturgesetze akzeptieren, müssen wir es eher als Zufall ansehen, dass die Erde (und vermutlich das gesamte Sonnensystem) ein Übergewicht an negativen Elektronen und positiven Protonen enthält. Es ist durchaus möglich, dass es bei einigen Sternen umgekehrt ist, da diese Sterne hauptsächlich aus Positronen und negativen Protonen aufgebaut sind. Tatsächlich kann es die Hälfte der Sterne jeder Art geben. Die beiden Arten von Sternen würden beide genau die gleichen Spektren aufweisen, und es gäbe keine Möglichkeit, sie mit den heutigen astronomischen Methoden zu unterscheiden.