Eine Krise am Rande der Physik

Aus LENR-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
BlackRock

A Crisis at the Edge of Physics

05. Juni 2015
Von Adam Frank und Marcelo Gleiser


Sind die Physiker zur Bestätigung ihrer Theorien auf das Vorliegen empirischer Beweise angewiesen?

Man könnte meinen, die Antwort bestünde in einem klaren Ja, denn der Kern der Wissenschaft besteht nun einmal in der experimentellen Bestätigung. Eine wachsende Kontroverse in den Grenzbereichen von Physik und Kosmologie deutet jetzt aber darauf hin, dass die ganze Sache doch nicht so einfach ist.

Vor einigen Monaten veröffentlichten zwei führende Forscher, George Ellis und Joseph Silk, in der Zeitschrift Nature einen kontroversen Artikel unter der Überschrift „Scientific Method: Defend the Integrity of Physics“ (Die wissenschaftliche Methode: Schützen wir die Integrität der Physik). Darin kritisierten sie die neu entdeckte Bereitschaft einiger Wissenschaftler, auf eine experimentelle Bestätigung selbst der anspruchsvollsten kosmologischen Theorien zu verzichten, solange diese Theorien nur „hinreichend elegant und aussagekräftig“ sind. Obwohl die Arbeit der betreffenden Wissenschaftler sich auf dem neuesten Erkenntnisstand bewegt, brechen sie nach Ansicht der Professoren Ellis und Silk „mit der jahrhundertealten philosophischen Tradition, nach der wissenschaftliche Erkenntnisse streng empirisch zu definieren sind“.

Egal, ob man ihnen nun zustimmen mag oder nicht, die beiden Professoren haben da ein wachsendes Problem in der Grundlagenphysik ausgemacht: Heutzutage scheint unsere ehrgeizigste Wissenschaft im Widerspruch zu jener empirischen Methodik zu stehen, die diesem Bereich in der Vergangenheit seine Glaubwürdigkeit verliehen hat.

Wie konnten wir in diese Sackgasse geraten? In gewisser Weise war es der bahnbrechende Nachweis des schwer zu erfassenden Higgs-Bosons durch Forscher am Large Hadron Collider vor drei Jahren (2012), der das Ende einer Ära markierte. Das Higgs-Teilchen, das bereits vor etwa 50 Jahren vorhergesagt wurde, bildet den Dreh- und Angelpunkt dessen, was Physiker als das „Standardmodell“ der Teilchenphysik bezeichnen, eine leistungsstarke mathematische Theorie, die alle fundamentalen Entitäten der Quantenwelt (die Quarks und die Leptonen) sowie alle bekannten Kräfte erklärt, die zwischen ihnen auftreten (Schwerkraft, Elektromagnetismus und die starke und die schwache Kraft).

Doch das Standardmodell stellt trotz allen Ruhms, den es durch seine Bestätigung erfahren hat, ebenso eine Sackgasse dar. Es bietet keinen Weg nach vorne an, um seine Vision von den kleinsten Bausteinen der Natur mit dem anderen großen Gebäude der Physik des 20. Jahrhunderts zu vereinen: der Einsteinschen Beschreibung der Schwerkraft im kosmischen Maßstab. Ohne eine Vereinigung dieser beiden Theorien – zur sogenannten Theorie der Quantengravitation – lässt sich nicht erklären, warum unser Universum aus genau diesen Teilchen, Kräften und Eigenschaften besteht. (Auch der Urknall, jenes kosmische Ereignis, das den Beginn der Zeit darstellt, ist für uns sonst nicht wirklich nachzuvollziehen.)

An dieser Stelle taucht das Gespenst einer beweisunabhängigen Wissenschaft auf. Während des größten Teils des letzten halben Jahrhunderts haben Physiker darum gerungen, über das Standardmodell hinauszukommen, um zum ultimativen Ziel der Vereinigung von Gravitation und Quantenwelt zu gelangen. Dazu wurden zahlreiche vielversprechende Möglichkeiten (wie etwa die vieldiskutierte Stringtheorie) erforscht, bisher allerdings ohne konkreten Erfolg im Sinne einer experimentellen Validierung.

Die derzeit favorisierte Theorie für einen weiteren Schritt über das Standardmodell hinaus ist die sogenannte Supersymmetrie (welche auch die Grundlage für die Stringtheorie bildet). Für jedes Teilchen, das wir derzeit kennen, sagt die Supersymmetrie die Existenz eines „Partner“-Teilchens voraus. Somit verdoppelt sie die Anzahl der Elementarteilchen der Materie in der Natur. Die Theorie ist mathematisch elegant, und die Teilchen, deren Existenz von ihr vorhergesagt wird, könnten auch die bisher ungeklärte „Dunkle Materie“ des Universums erklären. Daher waren viele Forscher zuversichtlich, dass sich die Supersymmetrie schon bald nach Inbetriebnahme des Large Hadron Collider experimentell bestätigen lassen würde.

Das war jedoch nicht der Fall. Bis zum heutigen Tag wurden keine supersymmetrischen Teilchen gefunden. Sollten diese Teilchen mit dem Large Hadron Collider nicht nachgewiesen werden können, werden viele Physiker die Supersymmetrie – und damit auch die Stringtheorie – zu einer weiteren schönen Idee der Physik erklären, die sich nicht bewahrheitet hat.

Doch viele von ihnen werden dies nicht tun. Stattdessen werden sie ihre Modelle in der Weise anpassen, dass sie supersymmetrische Teilchen mit Massen vorhersagen, die jenseits der Nachweisgrenze des Large Hadron Collider liegen – und auch jenseits aller absehbaren Ersatzmethoden.

Eine derartige Vorgehensweise birgt eine philosophische Frage in sich: Wie kann festgestellt werden, ob eine Theorie wahr ist, wenn diese experimentell nicht überprüft werden kann? Sollte man sie aufgeben, nur weil es bei einem bestimmten Stand der technischen Entwicklung unmöglich sein könnte, sie empirisch zu bestätigen? Wenn nicht – wie lange sollte man auf eine solche experimentelle Anlage warten, bevor man weitermacht: zehn Jahre? Fünfzig Jahre? Jahrhunderte?

Betrachten wir einmal die neueste Theorie in der Physik, die besagt, dass unser Universum nur ein Universum in einer Fülle von separaten Universen ist, die zusammen das sogenannte Multiversum bilden. Diese Theorie könnte zur Lösung einiger tiefgreifender wissenschaftlicher Probleme in Bezug auf unser eigenes Universum beitragen (z. B. das so genannte Feinabstimmungsproblem), dies jedoch zu einem erheblichen Preis: Die zusätzlichen Universen des Multiversums lägen nämlich jenseits unserer Beobachtungsmöglichkeiten und könnten niemals direkt erkundet werden. Die Befürworter des Multiversums argumentieren dessen ungeachtet, dass wir die Idee trotzdem weiter erforschen sollten – und nach indirekten Beweisen für andere Universen suchen sollten.

Das Lager der Gegenseite hat hierzu seine eigenen Fragen. Wenn eine Theorie das erfolgreich erklärt, was nachgewiesen werden kann, dabei aber auch Entitäten postuliert, die nicht nachgewiesen werden können (so wie andere Universen oder die hyperdimensionalen Superstrings der Stringtheorie), welchen Status besitzen dann diese postulierten Entitäten? Sollten wir sie als ebenso real betrachten wie die nachgewiesenen Teilchen des Standardmodells? Inwiefern unterscheiden sich die wissenschaftlichen Behauptungen über sie dann von anderen nicht überprüfbaren – aber nützlichen – Erklärungen von der Realität?

Erinnern wir uns an die Epizykel, diese imaginären Kreise, die Ptolemäus um 150 n. Chr. verwendete und in eine Formel fasste, um die Bewegungen der Planeten zu beschreiben. Obwohl Ptolemäus keine Beweise für ihre Existenz hatte, erklärten die Epizyklen erfolgreich all das, was die Alten am Nachthimmel beobachten konnten, so dass man sie als Realität akzeptierte. Mehr als 1500 Jahre später stellte sich dann jedoch heraus, dass es sich bei ihnen lediglich um eine Fiktion handelte. Sind also Superstrings und das Multiversum, die von Hunderten brillanter Wissenschaftler akribisch erforscht wurden, nichts anderes als eine Art moderner Epizykel?

Gerade erst vor ein paar Tagen haben Wissenschaftler nach einer zweijährigen Unterbrechung die Forschungsarbeiten mit dem Large Hadron Collider wieder aufgenommen. Durch Aufrüstungen ist er noch leistungsfähiger geworden, und die Physiker sind begierig darauf, vor allem die Eigenschaften des Higgs-Teilchens genauer zu erforschen. Sollte der aufgerüstete Collider tatsächlich supersymmetrische Teilchen entdecken, wäre dies ein erstaunlicher Triumph der modernen Physik. Sollte jedoch nichts zu finden sein, könnten sich unsere nächsten Schritte als schwierig und kontrovers erweisen und nicht nur die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, in Frage stellen, sondern auch, was es überhaupt bedeutet, Wissenschaft zu betreiben.


Adam Frank, Professor für Astrophysik an der University of Rochester, und Marcelo Gleiser, Professor für Physik und Astronomie am Dartmouth College, sind Mitbegründer des NPR-Blogs 13.7 Cosmos and Culture.